Deutscher Pflegetag – Deutschlands führender Pflegekongress
„Rassismus und Diskriminierung dürfen nicht ausschließlich das Problem der Betroffenen sein“
16.09.2021 - 11:14

„Rassismus und Diskriminierung dürfen nicht ausschließlich das Problem der Betroffenen sein“

Die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Miriam Tariba Richter (HAW Hamburg) darüber, wie sich Rassismus in der Pflege zeigt und was es braucht, um Handlungsstrategien und unterstützende Strukturen zu etablieren.

Krankenhäuser, Altenheime, Hospize und andere Pflegeeinrichtungen erwecken oft den Anschein, sich außerhalb des „normalen“ Lebens zu befinden. Und doch findet Pflege in der Mitte der Gesellschaft statt - mit vielen Schnittstellen zu den drängenden Fragen, Krisen und Ungleichheiten unserer Zeit. Oft sind Pflegefachpersonen auch selbst davon betroffen: An ihrem Arbeitsplatz erleben viele rassistische oder sexistische Diskriminierungen und Übergriffe. Deshalb wird auch der Deutsche Pflegetag 2021 dieses Thema aufgreifen – mit einem Themenschwerpunkt rund um „Pflege und Gesellschaft“.  Die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Miriam Tariba Richter wird in diesem Rahmen zum Thema „Pflege und Rassismus“ referieren – wir haben ihr vorab ein paar Fragen gestellt.

 

 

Rassismus in der Pflege kann aus verschiedenen Richtungen kommen – Pflegefachpersonen können rassistischen Kommentaren und Übergriffen von Pflegebedürftigen oder auch Diskriminierung durch Kolleg:innen oder Vorgesetzte ausgesetzt sein. Gibt es hier typische Situationen, die besonders häufig berichtet werden?

Es wird zum Beispiel immer wieder von rassistischen Bemerkungen berichtet, die bewusst, aber auch vor allem unbewusst geäußert werden. Häufig sind stereotype und verletzende Äußerungen aufgrund des Aussehens, der Religion oder der Herkunft, aber eben auch der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität. Ich habe erst vor einigen Wochen mitten in einer praktischen Prüfung erlebt, wie eine Praxisanleiterin mit Äußerungen wie „ihr Türken seid ja so und so“ beleidigt wurde. Auch erfahren zum Beispiel unsere Studierenden die Ablehnung der Durchführung einer Pflegemaßnahme durch eine „solche Schwester“. Hier muss aber auch betont werden, dass es nicht nur Diskriminierung und rassistische Zuschreibungen durch Pflegebedürftige in der Praxis gibt, sondern dies auch umgekehrt der Fall ist. Rassismus und Diskriminierung sind in unserer Gesellschaft in allen Bereichen konstitutiv, sei es im persönlichen Kontakt oder durch ausgrenzende Strukturen.

Prof. Dr. Miriam Tariba Richter (HAW Hamburg)

Prof. Dr. Miriam Tariba Richter (HAW Hamburg)

Es gibt bisher zu diesem Thema nur wenig grundlegende Forschung und Studien – woran liegt das Ihrer Meinung nach und wo sehen Sie Aufholbedarf?

Es gibt einige wenige Studien auf der strukturellen Ebene des Gesundheitssystems, aber eben nicht auf der Ebene der alltäglichen, persönlichen Rassismuserfahrungen. Hierfür gibt es aus meiner Sicht vielerlei Gründe, einer davon ist, dass die Auseinandersetzung und Reflektion mit eigenen Vorurteilen und Diskriminierungen keine angenehme ist, da wir häufig ja nicht bewusst verletzen oder ausgrenzen möchten. Anzuerkennen, dass wir bei genauem Hinsehen dies trotzdem tun, rüttelt am eigenen Selbstbild. Auch ist nicht zu unterschätzen, was eine Auseinandersetzung mit diesem Thema für Einrichtungen des Gesundheitswesens bedeutet. Eine Bearbeitung eines in der Gesellschaft tabuisierten Themas ist eine offene Anerkennung der eigenen Problembereiche. Dies trauen sich bisher die wenigsten Einrichtungen. Nachholbedarf sehe ich auf jeden Fall in der grundlegenden Erforschung des Themas in allen Bereichen der Pflege. Es braucht unter anderem eine systematische Erfassung in welchen Kontexten dieses Phänomen auftritt, was es kennzeichnet, wie häufig es vorkommt und welche Strukturen es begünstigt. Erst daran können spezifische Handlungskonzepte anschließen. Dies ist aus meiner Sicht nicht nur Aufgabe der Einrichtungen, sondern liegt auch in gesundheitspolitischer Verantwortung.

 

Welche Handlungsmöglichkeiten haben Arbeitgeber und leitende Pflegekräfte, um Rassismus am Arbeitsplatz entgegenzuwirken? Und was können Betroffene tun?

Offenheit für das Thema zeigen, damit die oben genannte Grundlagenforschung stattfinden kann. Im Anschluss lassen sich zielgerichtet konkretere Handlungsstrategien entwickeln und implementieren. Generell wäre es hilfreich, wenn Leitungskräfte genau hinsehen. Häufig denken wir über unsere Einrichtung, dass bei uns so etwas nicht vorkommt. Sie sollten auf der Ebene der persönlichen Rassismuserfahrungen, Pflegende wie zu Pflegende bei Vorfällen ernst nehmen und es braucht unterstützende Strukturen, zum Beispiel eine Anlauf- und Beratungsstelle bei Vorfällen. Die Betroffenen sollten bei Übergriffen nicht allein dastehen, sondern andere Pflegende an ihrer Seite haben die nicht wegsehen, sondern das Unrecht benennen und unterstützend eingreifen. Zusätzlich sollten die Strukturen in den Einrichtungen dahingehend untersucht werden wie Rassismen, Diskriminierung und Ausschlusspraktiken begünstigt werden. Es braucht des Weiteren Fort- und Weiterbildungen für Pflegende, damit diese Kompetenzen im Umgang mit Diskriminierung und Rassismuserfahrungen erwerben können. Und natürlich müssen auch betroffene Pflegende und zu Pflegende in der Bewältigung der Rassismuserfahrungen empowert werden. Allerdings darf Rassismus und Diskriminierung nicht ausschließlich das Problem der davon Betroffenen sein, sondern das Problem aller Menschen in der Pflege.